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Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst

Von Christopher Warmuth, 24.04.2017

Memento mori

Er braucht das Für und Wider, das ständige Reflektieren, die unentwegte Bewegung. Benjamin Appl, eine der aufstrebendsten Stimmen dieser Tage, hat seine zweite Platte veröffentlicht.

Für jedes Label ist ein solcher Künstler ein Segen, weil das Gesamtpaket stimmt. Über seine Anfänge als Chorknabe will er nicht sprechen, über Dietrich Fischer-Dieskau wird er auch ständig befragt. Einst dessen letzter Schüler, lehrt Appl mittlerweile selbst in London an der Guildhall School of Music & Drama in London. Wir wollten hinter die scheinbar perfekte Fassade schauen, die im Übrigen nie bröckeln wird, weil Appl akribisch dafür sorgt, seine Persönlichkeit vor neugierigen Blicken zu schützen.

niusic: Wo willst du hin?

Benjamin Appl: Gehen wir mal vom Künstlerischen aus. (lacht) Ich bin ja vor ein paar Jahren nach England gegangen, um dort zu leben und zu arbeiten. Und ich bin eigentlich mit der Prämisse nach London gegangen, dass das Leben als Sänger vor allem das Hauptsteckenpferd, die Oper, braucht. Das Verständnis hat sich doch geändert. Lied ist möglich, also ich liebe auch Oper, aber Lied liebe ich besonders.

niusic: Oper und Lied als Gegensatzpaar?

Appl: Es geht mir erst einmal um die Rahmenbedingungen. Natürlich wird das Lied nie die breite Öffentlichkeit der Oper erreichen, aber im Moment finde ich das einfach spannender. Und ich freue mich, dass es mir im Moment möglich ist, dass ich mich darauf konzentrieren kann.

niusic: Mir wird bei Liederabenden manchmal gruselig, weil das Publikum da zwei Personen zuhört, die ihr Innerstes nach außen kehren. Und nach einem Liederabend wird, jedenfalls habe ich das so erlebt, weniger diskutiert. Das Publikum streitet danach weniger als bei der Oper. Hat das Lied die breite Relevanz?

Appl: Ja! Unbedingt! Bei der Oper kann ich mich viel leichter hinter Dingen verstecken, hinter Kostümen, im Bühnenbild, in der Gesamtgeschichte. Beim Lied bin ich nackter, ungeschützter und setzte mich dem Publikum mehr aus. Da werden tief emotionale Dinge verhandelt, da geht es um Gefühle, was mir auch sehr wichtig ist. Intellektuell wird viel gesungen, emotional eher weniger ...

niusic: Woher kommt der Drang, sich einem Publikum auszuliefern? Warum dieser seelische Exhibitionismus vor Menschen?

Appl: Ganz egoistisch? Es ist ein Kanal, in dem ich mich finde, Emotionen ergründe, die ich so von mir nicht kenne. Und es ist eine Challenge: Wie viel kann ich geben, aber wann schadet es mir. Ich halte mich da ständig in Anspannung. Ich muss immer neu entscheiden, wie viel Schutz ich, in der emotionalen Nacktheit, noch brauche und wie sehr ich mich dem Publikum öffne. Ich merke auch, wenn ich mal eine Zeit nicht so häufig Liederabende singe, dass ich immer etwas brauche, um mich dem wieder aussetzen zu können.

niusic: Warum setzt man sich so einem Druck aus? Wäre ein anderer Job nicht unkomplizierter?

Appl: Sicherlich. Aber ich wollte ja eigentlich Banker werden. In meinem BWL-Studium habe ich dann oft auf meine fünfhundert anderen Kommilitonen geschaut und habe festgestellt, dass ich keinen Job will, in dem ich so wenig ich selbst sein kann und darf. Das war ein Prozess, ich hatte den maximalen Kontrast, habe morgens BWL studiert und nachmittags Musik. Und irgendwann habe ich festgestellt, dass ich einfach süchtig nach Musik bin ...

niusic: Süchtig? Suchtkranke sollten angeblich Therapie machen ...

Appl: (lacht) Stimmt, die Metapher hinkt. Aber warum ist jemand ein Spieler? Oder warum ist jemand drogenabhängig? Man weiß theoretisch, wo es enden kann, aber man hört dennoch nicht auf. Und ich muss natürlich aufpassen, dass ich emotional nicht verschleiße, dass ich langfristig mit meiner Stimme arbeiten kann. Grundsätzlich glaube ich, dass man sich als Künstler schützen muss, aber dass Ehrlichkeit sehr sehr wichtig ist.

niusic: Sind Schutz und Ehrlichkeit auf der Bühne Dinge, die konträr sind?

Appl: Da denke ich tatsächlich daran, nicht persönlich drauf zu gehen und dass ich lange gesund singen kann.



niusic: Ist dieses permanente Reflektieren über sich selbst nicht auch anstrengend und nervig?

Appl: Ja. Natürlich. Manchmal denke ich, dass es dann auch mal wieder reicht. Es ist wichtig, dass man Leute um sich hat, die mit der Musik nicht viel zu tun haben. Das brauche ich schon als Ausgleich. Wenn ich bei meiner Familie in Regensburg bin, dann fragt mich eigentlich keiner, wo ich was wie viel singe. Das tut mir immer sehr gut. Da werde ich immer so behandelt, wie ich früher war. Das tat vor allem in einer Zeit gut, wo ich wirklich noch nicht unter einem so großen Druck stand und häufig künstlerisch Dinge gemacht habe, mit denen ich mich weit aus dem Fenster gelehnt habe. In der Anfangsphase singt man häufig Dinge, für die man nicht perfekt vorbereitet ist, wo man eben auch Stücke zum ersten Mal auf einer Bühne singt. Und da brauchte ich den familiären und freundschaftlichen Schutz sehr stark.

niusic: In deiner jetzigen Situation, gerade beim Major-Label unter Vertrag, kannst du keine Sachen mehr machen, mit denen du dich künstlerisch aus dem Fenster lehnst?

Appl: Natürlich werde ich auch jetzt Dinge zum ersten Mal auf einer Bühne singen, aber man geht natürlich nicht mehr so viel Risiko ein.

niusic: Aber gehört Risiko nicht immer zu den großen Schritten dazu?

Appl: Sicherlich. Aber wie soll ich das kommunizieren? Vorher auf der Bühne sagen, dass ich das jetzt zum ersten Mal mache? Das kann ich ja nicht machen ...

niusic: Warum eigentlich nicht?

Appl: Das wäre seltsam ...

niusic: Aber seltsam ist doch, dass man keine Schwäche mehr auf der Bühne zugeben darf, dass eben alles perfekt sein muss, obwohl das vermeintlich Unperfekte die Kunst nach vorne bringt?

Appl: Da muss ich mal drüber nachdenken. Ich würde es tatsächlich gerne häufiger tun. Aber das ist auch wieder ein Für und Wider, ein Abwägen. Da gibt es keinen einen richtigen Weg. Ich existiere ja nicht in einem luftleeren Raum, ich lebe in Rahmenbedingungen, die mich verändern, auch meine Kunst.



niusic: Deine neue Platte ist ein Konzeptalbum, die das Thema „Heimat“ behandelt. Die erste Studioaufnahme war eher konventionell. Warum das Konzeptalbum?

Appl: Es hat mich interessiert. Mein Umzug nach England, die aktuelle politische Lage da, haben mich im letzten Jahr sehr viel über das Thema „Heimat“ und Verbundenheit nachdenken lassen. Meine Wurzeln treiben mich sehr stark um. Und ich hoffe, dass man über das Thema durch ästhetische und emotionale Auseinandersetzung nachdenkt und es mit dem Hörer etwas macht.

niusic: Was wird das nächste Konzeptalbum?

Appl: (lacht) Da muss ich schauen, was mich wieder umtreibt. Ich bin niemand, der wirklich mit Profitkalkül an Projekte rangeht. Es muss mich wirklich interessieren, ich will nicht auf aktuelle Themen aufspringen und die dann irgendwie künstlerisch umsetzen. Wenn es mich interessiert, wenn ich an ein Thema wirklich Fragen habe, dann wird sich das hoffentlich authentischer kommunizieren. In der Musik.

niusic: Sag mir mal drei Dinge, die in deiner Trauerrede gesagt werden müssten, wenn du jetzt sterben würdest.

Appl: Wie bitte?

niusic: Ich löse es gleich auf ...

Appl: Ok. Dann künstlerisch: 1. Er hat es probiert. 2. Er hat was erreicht. 3. Er war anders.

niusic: Und was sollte in fünfzehn Jahren bei deinem fiktiven Tod gesagt werden?

Appl: Genau das Gleiche.

niusic: Also ist die künstlerische To-Do-Liste für die nächsten fünfzehn Jahre nicht sehr lang? Ich fragte deshalb, weil du ungewöhnlich wenig über konkrete Wünsche sprichst. Du machst häufig Gegensatzpaare auf, Schutz – Ehrlichkeit, Nacktheit – Kontrolle, Experiment – Langfristigkeit.

Appl: (lacht) Ach so. Jetzt verstehe ich. Nein natürlich will ich mich entwickeln. Aber wir vergessen oft, dass einen Status zu halten sehr schwierig ist. Ich will nicht in einen Aktionismus verfallen. Die Entwicklung wird sich von alleine einstellen, wenn ich mich auf die nächsten kleinen Schritte konzentriere. Die Liebe zur Sache darf sich nicht verändern. Dann werde ich mich sicher entwickeln.

© Lars Borges


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