Von Carsten Hinrichs, 11.06.2017

Die Karawane zieht weiter

Sommerzeit, Festivalzeit – und wie jedes Jahr scheint eine Handvoll namhafter Künstler allein die Republik flächendeckend zu bespielen. Ein Plädoyer für den Mut zur Nische.

Es wird wieder Sommer, und damit auch Festivalzeit. Die einen lockt glasfein geschliffene Kammermusik in ländlicher Umgebung, andere die familiäre Nähe zum Künstler, wieder andere suchen den Glamour, das Funkeln der Abendkleider, den Gossip in der Pause: Festivals sind der Herzschlag (auch) der Klassik. Und sie werden in ihrer zeitlichen Intensität auch stärker öffentlich zur Kenntnis genommen als die übliche Konzertsaison.

Klassik als edel temperierte, ewig seidige Klangtapete – programmatisch flach gepresst zwischen Einnahmeprognose und Mehrheitsgeschmack.


Auffällig ist nur, dass auch dieses Jahr wieder eine kleine Handvoll von Musikerinnen und Musikern die Republik geradezu flächendeckend zu bespielen scheint. Ein paar wenige, die beim Durchstöbern der Programme und in der superlativisch gedachten Häufung von Namen in Pressetexten immer und immer wieder fallen. Zu diesem „Who-is-who“ der Klassik zählen etwa Simone Kermes, dieses Jahr bei sechs Festivals an Bord, oder der Tasten-Zauberer Daniil Trifonov (fünf Festivals, darunter Verbier, Salzburg, Musikfest Bremen). Auch der Auftritt von Valery Gergiev wird gleich von mehreren Veranstaltern wie ein Alleinstellungsmerkmal angepriesen, dabei unterhält der Dirigent zwei nur ihm gewidmete (und auch nach ihm benannte) Festspiele an seinen Orchesterstandorten in Rotterdam und Mikkelin (Finnland). Ebenfalls immer wieder gern eingeladen: das Quatuor Ébène, Violinistin Isabelle Faust, Pierre-Laurent Aimard, Hélène Grimaud und Daniel Hope, der für diesen Sommer die von Max Richter sehr erfolgreich abgeschmeckten Vivaldi-Jahreszeiten nochmal live auftischt. Ach Gott, ja.

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen

Ist das nun Raffgier der Musiker oder ein angeblich verengter Publikumsgeschmack (und sei er auch nur von Programmplanern vorwegnehmend befürchtet)? Liegt es vielleicht an der exponentiell zunehmenden Zahl der Festivals? An einer schrumpfenden Zahl an echten Stars in der klassischen Musik? Oder, präziser formuliert, vielleicht eher daran, dass immer weniger Klassik-Künstler einer so breiten Zahl an potenziellen Besuchern bekannt sind, dass ihre Namen noch ziehen? Die Folge davon liegt auf der Hand: Landauf, landab erklingt so bei den unterschiedlichsten Festivals in Wahrheit immer öfter dasselbe. Eine(r) für alle.
Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Man sollte schon differenzieren zwischen oft mit viel Engagement gestemmten Lokalfestivals einerseits und den professionell durchgetakteten großen Veranstaltern andererseits. Und natürlich verdienen sich Künstler bei Tourprogrammen nicht zwangsläufig eine goldene Nase – zuweilen erlauben überhaupt nur die auf mehrere Abnehmer verteilten Produktionskosten Programme mit aufwändiger Dramaturgie oder Orchesterrepertoire. Und natürlich hat auch ein regionales Publikum das Recht, bei „seinem“ Festival jene Stars zu treffen, die gerade en vogue sind. Sich über mangelnde Auswahl beklagen zu können, ist ein Luxus der reisenden Kultur-Aficionados oder von Journalisten. Und Festivals mit mehreren Wochen Laufzeit, die in den ländlichen Regionen die öffentlichen Kulturträger in Wirklichkeit längst privatwirtschaftlich abgelöst haben, sind dankbar für vorkonfektionierte Ware, die ihnen die zentralen Termine mit erwartbaren Einnahmen füllt. Und die so das finanzielle Rückgrat für Konzerte auch mit weniger breitenwirksamem Repertoire schafft.

Der Zirkelschluss mit dem Bekanntheitsgrad

Die aber folgen nicht zwangsläufig. Nicht wenige Lokal- und Landespolitiker, die bei kleineren Festivals über Fördermittel entscheiden und auf überregionale Ausstrahlung bedacht sind, können überdies die Qualität eines jungen, aber noch unbekannten Streichquartetts nicht einschätzen, sondern setzen allein auf den Faktor Bekanntheitsgrad. Und suchen daher im Programm nach den Namen der wenigen überall Vertretenen – und daher auch ihnen bekannten Künstlern. Wie auch jenes Publikum, auf das man zwangsläufig angewiesen ist, wenn ein Konzert die Kammermusiksaalgröße von 400 Plätzen übersteigt. Steuern wir also unaufhaltsam zu auf den Typus des ununterscheidbaren „Kurkonzert-Festivals“? Klassik als edel temperierte, ewig seidige Klangtapete der Abendgestaltung, programmatisch flach gepresst zwischen Einnahmeprognose und Mehrheitsgeschmack.

Im Grunde sollte sich doch nur Festival nennen dürfen, was mehr ist als ein zeitlich komprimierter Konzertreigen. Es braucht einen gesamtprogrammatischen Anspruch, inhaltlichen Mehrwert durch das Miteinander dieser ausgewählten Künstler oder Musikwerke und gerade in ländlichen Festivalregionen eine Profilschärfung durch Verortung. Und wenn der Ort keine kulturhistorischen Bezüge ermöglicht, hilft nur eine große Zahl klug initiierter Eigenproduktionen. Ja, angesichts der großen Konkurrenz braucht es Mut zur Nische bei der Programmplanung. Wer lehnt schon einen großen Künstler ab, weil der partout nichts einstudieren möchte, das sinnvoll ins Programm passt?! Wer auf der Suche nach inhaltlich befriedigenden Festivals ist, wird viel eher dort fündig, wo man sich auf Ausschnitte konzentriert und es eben nicht alles für alle gibt: Kammermusik beim Lockenhaus Festival im Juli, Liedkunst bei der Vorarlberger Schubertiade den ganzen Sommer über, oder zwei Wochen lang historisch erfrischte Musik in architektonischen Prachtstücken, wie bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci, die an diesem Wochenende begonnen haben.
Wie gesagt: Vieles spricht für Gastspiele sehr guter Künstler an mehr als einem Ort. Ein lockendes, einzigartiges Programm ist aber die bessere Publikumsbindung. Und gleichzeitig eine langfristige Bestandssicherung in Zeiten überhitzter Festivalitis.


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