Von Carsten Hinrichs, 03.04.2017

Rachmaninow Live Reaction!

Zu den hirnlosesten Entwicklungen des Zeitkillerportals YouTube gehören seit ein paar Jahren schon die Reaktions-Videos. Jemandem zuschauen, der etwas zuschaut. Was das mit Musik zu tun hat? Vorhang auf!

Angefangen hat der Trend damit, dass man Senioren vor eindeutig nicht altersentsprechendes Material gesetzt hat und sich an den rasch wechselnden Schockzuständen ergötzte. Live Reaction ist ideal, wenn mir gar nichts Eigenes mehr einfällt, wenn ich alle Flüssigkeiten von unter der Spüle schon probiert oder alle viskosen Lebensmittel in Industrie-Mengen in meinen Gartenpool geschüttet habe, für einen Köpper vor laufender Kamera. Oder wenn ich über nichts anderes als eine alte Handykamera verfüge, denn YouTube-Zuschauer sind inzwischen technisch verwöhnt. In all diesen Fällen filme ich mich einfach nur noch dabei, wie ich was anderes sehe. Man muss nur warten, bis irgendein Kino-Trailer oder ein besonders böses Missgeschick im Wackelmodus klickmäßig durch die Decke geht, und schon hänge ich mich dran. An den Schreibtisch des unaufgeräumten Kinderzimmers setzen, Video anklicken, Kamera dabei aber auf mich richten, und Bühne frei. Da wird Verblüffung wie unter der Lupe ins Unermessliche gesteigert, mit den Augen gerollt, „OH-MY-GOD!“ geschrien und möglichst all das, was sich bei einem äußerlich regungslos verharrenden Normalbetrachter so an Emotionen in der Brust regen könnte, Theaterstadl-würdig für die letzte Reihe sichtbar gemacht. Woher ich das weiß? Nun ja, man „schaut ja Internet“, zu Studienzwecken. Völlig unbeeindruckt, natürlich.

Der Pianist, der noch ganz gesittet den Saal betreten und sich artig verbeugt hatte, lässt in der eröffnenden „Elegie“ plötzlich den Oberkörper kreiseln wie eine Made bei Lichteinfall.

Nun kann sich der niusic-Leser abwenden und sagen: Was hat das mit Musik zu tun, wenn sich die Jugend die allzu reizlosen Jahre bis zur Geschlechtsreife mit Bewegtbild vertreibt? Ist doch normal. Wir haben früher Autos geknackt. Oder wenigstens Äpfel gestohlen. Oder Maispfeifchen geraucht, bis uns schlecht wurde. Was sind da schon 300 Liter Cola im Planschbecken oder ein kräftiger Zug aus der Domestosflasche?
Nicht so voreilig. Erst vorletztes Wochenende ist es mir wieder passiert. Ich sitze im Konzertsaal, Klavierrecital, und warte auf sauber filetierte russische Romantik. Irgendwas von Skriabin und Rachmaninow, ich hatte nur flüchtig auf den Zettel geschaut. Die „Morceaux de fantaisie“, schöne, herzerwärmende Stil- und Gattungsübungen von Rachmaninow, sollten den Anfang machen. Und was passiert? Der Pianist, der noch ganz gesittet den Saal betreten und sich artig verbeugt hatte, verwandelt sich, kaum dass er die Tasten berührt, in einen Pantomimen. Lässt in der eröffnenden „Elegie“ – zugegeben: ein Stück, bei dem man Heimweh nach Russland bekommt, auch wenn man da gar nicht geboren wurde – plötzlich den Oberkörper kreiseln wie eine Made bei Lichteinfall. Das berühmte cis-Moll-Prélude begleitet er mit einer Mine, als müsste ein im Wohnzimmer trotzpinkelnder Hund in die Schranken gewiesen werden, und zur „Mélodie“ macht er ein verblüfft-erfreutes Gesicht, als hätte er gerade einen riesigen Steinpilz im Wald gefunden, sich dabei selbst mit der rechten Hand dirigierend. Ihgitt! Ich meine – muss das?! Was soll diese gestische Untertitelung von Emotionen? Meist entscheidet meine Laune, ob ich darüber gelassen hinwegsehen kann und einfach die Augen schließe, oder mich so fortlaufend darüber ärgere, dass die Musik in den Hintergrund tritt.

Der Gerechtigkeit halber muss ich erwähnen, dass der Konzertsaal, in dem ich dabei sitze, nicht ganz unschuldig daran ist. Historisch betrachtet. Wenn man Künstler lieber nicht sehen will, könnte man sich auch einfach eine CD in die High-End-Anlage werfen. Der Reiz des Konzerts liegt ja außer im unverfälschten Klang und der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten gerade darin, den Künstler bei der Aufführung zu erleben. Live dabei zu sein. Und so ist es kein Wunder, dass die auch darstellerisch begabten Virtuosen das Minenspiel schon seit jeher auch bewusst einsetzten, um ihr Publikum zu verführen. Ihm eine Nähe zu des Künstlers innersten Regungen und Wandlungen während des Musizierens zu suggerieren, oder um an geeigneter Stelle das hohepriesterliche Walten durch einen entrückten Blick über die Köpfe der Hörer hinweg zu unterstreichen. Man sehe sich interessehalber einmal Lang Lang an, der hier in Clubatmosphäre und nebelumwogt zu einer Transkription von Schuberts an sich harmlosem „Ständchen“ greift, als Vorlage für eine bühnenreife Tragödie.



Nicht alles auf der Bühne ist zwangsläufig einstudiert. Man braucht nur in die entgleisten Gesichtszüge mancher Kammermusiker zu blicken, die versuchen, ihre Stimmen miteinander zu verflechten, sich den Ball der jeweils tragenden Melodie im gleichberechtigten Satz gegenseitig zuspielen. Dann weiß man: So einen Blick kann man mit Absicht nicht aufsetzen. Hier ergreift das Gefühl, der Fluss der Musik, wörtlich: ihr Flow, Besitz vom Musiker, und er wird ganz Klangerzeugung, Gestaltung, Miteinander. Das sind die schönsten Momente im Konzert, und ich gestehe, wenn ich meine Erinnerung überprüfe, dass mich dieses lämmergleiche Starren von Musikern nie gestört hat. Weil währenddessen echte Magie stattfand, die mich völlig in ihren Bann schlug.

Musik „bewegt“, keine Frage. Doch ich meine zu bemerken, wann der Künstler zum Übersetzer wird. Kann gut sein, dass Pianisten manche Hörer damit sogar erst wirklich erreichen, wie in unserem obigen Beispiel der sehr beliebte Lang Lang. Der sein Minenspiel inzwischen übrigens umgebungsabhängig reduziert haben soll. Aber die Liste ließe sich mit anderen Namen beliebig fortsetzen. Vielleicht sind manche Konzertbesucher nämlich ganz einfach froh darüber, dass sie mit der gestischen Unterstreichung von Musik einen Holzweg durch den Dschungel der Emotionen gebahnt bekommen. Von dem aus lassen sich die exotischen Schönheiten ohne Gefahr eigener Empfindungen genießen. Ich wäre aber doch dafür, in der post-virtuosen Musikepoche den ausübenden Musiker wieder aus dieser Funktion zu entlassen. Und dafür kleine Bildschirme in die Lehnen der Vordersitze einzubauen, auf denen das Geschehen gestisch untertitelt wird, wie im hier folgenden Beispiel eines „Konzerts für Gesicht und Orchester“ von Niccolò Paganini. Gefunden – na klar – auf YouTube. Solche Monitore könnte man dann wenigstens: abschalten.



© David-Karich/pixabay.com
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