Von Anna Vogt, 06.10.2016

Vokalkonfekt

Isst man zu viel durcheinander, wird einem schnell schlecht. Doch „Mitologia“ ist ein wohl dosierter Händel-Mix: vertonte Emotionen, zusammengestellt von Experten.

Mythologie geht immer. Seit Beginn der Gattung Oper diente sie Komponisten als Schatztruhe für zeitlose Gefühle und große Dramatik – ob Liebe oder Eifersucht, Wut, Todessehnsucht oder Schmerz. Schon in der Barockzeit 27 entwickelte sich für diese Gefühlsfelder ein musikalischer Ausdruckskatalog, eine Art Lexikon der Emotionen. Und auch wenn die verworrenen Intrigen von Herkules, Apollo oder Semele bei vielen von uns irgendwo im längst vergessenen Schulwissen schlummern: In Händels Opern werden ihre Gefühlswelten auch ohne dieses Wissen lebendig. Durch zuhören, mitempfinden, auf sich wirken lassen. Mehr braucht es nicht.

  1. Reifrock, Puder, Mätressen und Schampus. Willkommen im Barock. Musikalisch endet diese Epoche mit dem Tod von Johann Sebastian Bach. Die Musik ist mathematisch komplex geführt, ergötzt sich an Verzierungskunst und wurde häufig für die Kirche komponiert. Der Barock bietet aber mehr als Schwulst und Erhabenes. (CW)

Zuhören, mitempfinden, auf sich wirken lassen – mehr braucht es nicht.

Als Musiker kann man sich daher mit einem Album voller Händel-Hits zwar bestens in seiner Vielseitigkeit präsentieren. Aber so eine Selektion schafft immer schnell auch Überdruss: Leuchtet nicht erst durch die Längen von Händels Opern 250 eine Arie wie das traumverlorene „Felicissima quest´alma“ aus „Apollo e Dafne“ so richtig heraus? Stellen sich die Härchen auch dann noch auf, wenn ein Highlight auf das nächste folgt? Zu viele Vokal-Pralinen auf einmal, schon ist man übersättigt. Aber diesen Trend zur Vorselektion kann man nicht unbedingt den beteiligten Künstlern anlasten, sondern der Plattenindustrie und somit auch uns als Publikum, das sich allzu gern die emotionalen Höhepunkte dieser Musik als handliche Häppchen servieren lässt, anstatt stundenlang den komplizierten Intrigen zu folgen.

  1. Bitter ernst geht es in der „Opera seria“ des 19. Jahrhunderts zu, anders als bei ihrer fröhlichen Schwester, der „buffa“. Und so wird hier unglücklich geliebt, betrogen und gemeuchelt, bis am Schluss zu tragischem Moll der Vorhang fällt. Warum sich die Zuschauer das antun? Weil man hinter all der Bühnen-Tragik die eigene Vergänglichkeit so gut vergessen kann. Und weil´s einfach schön ist. (AV)



Doch auf „Mitologia“ findet sich zum Glück kein Billig-Buffet, sondern eine geschmackvoll zusammengestellte und fein aufeinander abgestimmte Auswahl. Als Rahmen dienen Auszüge aus Händels „Parnasso in festa“ und „Echeggiate, festeggiate“, zwei berührende Kantaten 171 , in denen schon einige der mythischen Superstars wie Orpheus, Jupiter und Minerva zu Wort kommen. Aber auch in den dazwischen gruppierten Nummern aus Händels Musikdramen wie „Semele“ oder „Apollo e Dafne“ leihen Sopranistin Christiane Karg und Mezzosopranistin Romina Basso ihre sehr unterschiedlichen Stimmen längst vergangenen Helden und Heldinnen. Das ist mit Hingabe und großem Wissen um Agogik 227 und Verzierungen musiziert, mit wenig Vibrato [g*vibrato7] und glasklaren Koloraturen 105 . Kein Schmieren, kein unbegründetes Pathos.

  1. Koloraturen sind was für Angeber – und gerade deshalb wunderschön. Diese oft unheimlich schnellen, schwierigen Melodie-Verzierungen geben den Sängern die Möglichkeit, ihr Können zu zeigen. Viele Komponisten haben sie ihren Lieblingen quasi auf den Leib geschrieben, was Profisänger noch heute schlaflose Nächte bereitet (AJ)

  2. Wer denkt hier nicht automatisch an Johann Sebastian Bach? Ganz richtig: Der deutsche Komponist schrieb über 200 kunstvolle Werke in dieser Gattung der festlichen Gottesdienstmusik mit Chor, Orchester und Solisten. Die „Bachkantate“ wurde dadurch zum feststehenden Begriff. Später schrieben unter anderem Carl Nielsen und Paul Hindemith auch weltliche Kantaten – im Prinzip jeder Text lässt sich so vertonen. Daher eine traditionsreiche Gattung mit Zukunft! (MH)

  3. Ohne die Agogik würden Musiker wie Roboter klingen. Lebendig werden Klänge erst durch diese kleinen, individuellen Freiheiten des Tempos. Ein wenig drängen, davongaloppieren, oder langsamer werden – mit der Agogik wird Musik zur menschlichen Ausdruckskunst. (AV)

Alan Curtis ist letztes Jahr mit 80 Jahren verstorben. Sein Händel aber steht mitten im Leben.

Das ist natürlich vor allem auch dem Alte Musik-Profi Alan Curtis zu verdanken, der das Projekt mit seinem Complesso barocco konzipierte. Die Aufnahmen fanden bereits vor vier Jahren in einer norditalienischen Villa statt und wurden erst jetzt veröffentlicht. Curtis ist im Sommer 2015 gestorben, im stolzen Alter von 80 Jahren. So ist die CD auch ein glanzvolles Vermächtnis geworden dieses Kenners und Liebhabers Alter Musik. Und die klingt unter seiner Leitung so gar nicht alt, sondern taufrisch und höchst lebendig, von Anfang bis Ende. So wie in der ersten Nummer, in der Il Complesso barocco Romina Basso in einer wilden Arie über die Furien durch aufschäumende Streicherwellen schleudert, mit Mut zum Risiko, aber zugleich äußerst kontrolliert: hochemotionale Präzisionskunst.




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Georg Friedrich Händel

Mitologia

Christiane Karg, Romina Basso, Il Complesso Barocco, Alan Curtis

dhm/Sony


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